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Zinnschauer ziehen ein rotes Band durch „Das Zimmer mit dem doppelten Bestand“

Der erste Song der neuen Platte von Zinnschauer klingt wie der Vorspann eines alten schwarz-weiß Films. Er bereitet auf die Dramatik vor, die die weiteren Tracks auf Das Zimmer mit dem doppelten Bestand bereithalten.

Zinnschauer, das sind Jakob Amr und Sjard Fitter. Die beiden machen seit ihrer Kindheit gemeinsam Musik, in ihrer WG entwickelte sich diese Idee des „Märchen-Emo“ daraus. 2012 veröffentlichten sie ihre erste EP und zwei Jahre später ihr Debütalbum Hunger.Stille. Sechs Jahre Stille herrschten nach diesem Release um Zinnschauer. Dafür war um Jakob als Teil der Band Leoniden viel Trubel, da sie getragen von ihrem Erfolg über 100 Konzerte im Jahr spielten. Dabei blieb wenig Raum für dieses zweite Projekt. Die freie Zeit der Corona-Pandemie hat sich nun dafür angeboten, ein neues Zinnschauer-Album zu erschaffen.

Violinistin Thuy-Vi Nguyen und Produzent Magnus Wichmann haben Jakob und Sjard im Studio unterstützt. Dort haben sie viel mit der Räumlichkeit experimentiert und Elemente, die man eher aus Hörspielen kennt, eingebaut. So hört man häufig Stimmen aus der Ferne oder in Ein Sturz (Bisse) das Knarzen einer Tür. Die Stimme wird nicht nur als Instrument des Gesangs, sondern auch gesprochen als die eines Erzählers eingesetzt. Charakteristisch für Zinnschauer ist die Gitarre, die mal wirr gezupft, mal hart angeschlagen wird und nie dasselbe Muster innerhalb eines Songs behält. Somit ist sie gemeinsam mit dem Gesang Vermittler der Emotionen.  

Man muss Das Zimmer mit dem doppelten Bestand als Gesamtes sehen, um es zu verstehen. Zinnschauer erzählen eine Geschichte, die über alle Songs zusammenhängt. Sie lässt viel Raum für Interpretationen, Jakob erklärt im Interview mit DIFFUS die grobe Idee: Es gehe um das Erwachsenwerden und darum, zwischen dem Kindsein und Elterngefühl zu stehen. Das Kind liegt im Zimmer, das doppelt möbliert ist, und arbeitet sich im Laufe des Albums langsam heraus. 

Lyrisch betrachtet könnte man das Album im Deutschunterricht analysieren. Es gibt diverse Motive, die auf den Liedern immer wieder auftauchen. Ein Beispiel wäre das rote Band oder die Linien, die im letzten Song als Lilien aufgelöst werden. Das Zimmer mit dem doppelten Bestand ist eine große Metapher, gespickt von zahlreichen kleinen Metaphern, die für die Einengung des Kindes durch doppelte Erwartungen steht.

Auf dem Album sind auch musikalische Leitmotive zu finden. Der Refrain Wenn ich jetzt nicht geh, komm ich nie mehr weg erscheint in Laternenaustreten das erste Mal und taucht dann in Eine Chance (Umzug) und Sonnen im Gesicht wieder auf. Dabei haben Zinnschauer nur den Text verändert. Diese Leitmotivtechnik hat schon Richard Wagner 1845 in seinen Musikdramen verwendet. Die Leitmotive waren charakteristische Tongebilde, die eine Person, eine Idee oder ein Gefühl symbolisierten. Sie erschienen in Varianten und Verflechtungen und deuteten in seinen Werken psychologische Zusammenhänge an, die weit über den Text hinausgingen. (1)

Zinnschauer bewegen sich auf Das Zimmer mit dem doppelten Bestand in allen musikalischen Ebenen. Besonders auffallend sind die Extreme in der Dynamik. Sie bewegen sich von ganz leise bis zu schlagartig lautem Ausbrechen. Die Lautstärke geht meistens mit voller Besetzung und überlagerten Stimmen einher, die eine feierliche Atmosphäre erzeugen, an anderen Stellen dagegen Verzweiflung ausdrücken. Die Rhythmuswechsel innerhalb der Songs befeuern diese Emotionen. Einengung, Ersticken und Erdrückung durch Erwartungen werden auf dem Album treffend dargestellt und verstanden. Auch mit der Metapher des einengenden Raumes wurde jede*r spätestens letztes Jahr konfrontiert.

Das Album könnte durch die Verstrickungen der einzelnen Lieder gut als Gesamtkunstwerk à la Richard Wagner veröffentlicht werden und als 30-minütiges Lied am Stück erscheinen. Zinnschauer haben mit Das Zimmer mit dem doppelten Bestand ein einzigartiges Werk geschaffen, das die Hörer*innen auf ein Abenteuer mitnimmt. Die komplexe Geschichte mit der temperamentvollen Musik sind wie für eine Theaterbühne gestaltet und sind durch ihre Spannung ein würdiger Ersatz, bis die Vorhänge sich dort wieder öffnen.


(1) Vgl. Schmid, Wieland: TonArt, Rum/Innsbruck/Esslingen 2009, S. 153.

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